Vom Sollen und Wollen

Selbstbeschreibungen: Der Philosoph Peter Bieri eröffnet die Berliner Lektionen

Der Tagesspiegel, 26. Oktober 2009

Der Saisonbeginn der Berliner Lektionen im Renaissance-Theater hat etwas von einem Popkonzert, mit traurig blickenden Fans, die draußen „Suche Karte“-Zettel hochhalten. Der Star ist Peter Bieri, der die Analytische Philosophie in Deutschland voranbrachte und als Pascal Mercier mit dem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ ein breites Publikum rührte. Herr Bieri stehe zum Signieren bereit, verspricht Michael Göring von der Zeit-Stiftung bei der Einführung – „aber nur jeweils ein Buch!“

Es hat bestimmt mit den Augen zu tun. Tief und dunkel, ein Blick, der äußerste Konzentration verspricht und unerbittliches Nachdenken. Peter Bieri füllt eine Lücke: die des Universaldenkers, der sich den Luxus leisten kann, in Ruhe über elementare Fragen nachzudenken und so darüber zu reden, dass ihn jeder versteht.

Er verkörpert eine antike Vorstellung von philosophischer Lehre, die sich nicht in Vorlesungsmitschriften und Leistungsnachweisen erschöpft, sondern in der die körperliche Präsenz des Lehrers zählt, die erotische Ausstrahlung des weisen Mannes. Vor zwei Jahren hatte Bieri seine Professur niedergelegt, um sich ganz der Literatur zu widmen. Er spricht also aus Erfahrung, wenn er in der Matinee fragt: „Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“.

Die Frage ist so alt wie die Inschrift am Orakel von Delphi: „Erkenne dich selbst.“ Schon Sokrates riet dem jungen Alkibiades, bevor er in die Politik strebe, solle er sich selbst regieren lernen. Doch wie kann das gehen, „Autor und Subjekt meines Lebens zu werden“, wie Bieri es poetisch auf den Punkt bringt? „Wir sind nicht die unbewegten Beweger unseres Wollens und Denkens“, sondern geprägt durch Vergangenheit und fremde Einflüsse. Sonst gäbe es keinen Maßstab, der es erlaubt, Selbstbilder zu überprüfen. Ziel sei der Gewinn von Identität durch Selbstbeschreibung, die Aneignung von Erfahrung – „die schwierigste Aufgabe unseres Lebens“. Pause. „Doch wir sind nicht alleine. Es gibt die Literatur.“

Von ihr lerne man, wie man sich selbst erzählt. „Sie gibt uns eine Vorstellung davon, was es alles gibt zwischen Hollywood und dem Kloster.“ Bieri steht freilich dem Kloster näher. Als Kind erschien ihm das, was er las, wirklicher als das, was er draußen sah. So ist es geblieben.

Vielleicht vermeidet der Philosoph deshalb jede konkrete Aussage zum aktuellen Zeitgeschehen. Die boomenden Märkte von Coaching und Ratgeberliteratur, die schwankenden Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatem und der fragwürdige Imperativ zur Selbstlenkung in neoliberalen Arbeitswelten, in denen der Einzelne für sein Glück verantwortlich sein soll – darüber sagt er nichts. Stattdessen entwirft Peter Bieri die folgenlose „Utopie eines Fantasten“: „Ich wünsche mir eine Kultur der Stille, in der jeder Zeit hat, seine eigene Stimme zu finden.“ Applaus: Das Publikum fühlt sich verstanden. Zum Signieren wird ein Rokoko-Tischchen herbeigetragen.

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