Materie im Austausch

Urteil unmöglich: Ein kurzer Vorstoß in die Karlsaue in den ersten Stunden der 12. Documenta

Der Tagesspiegel, 07. Juni 2012

Ihre Documenta solle ruhig den Eindruck des Unvollständigen erwecken, hat Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev den Journalisten in der Pressekonferenz auf den Weg gegeben, den des Mangels, auch des Unbehaglichen. Die Urteilskraft solle außer Kraft gesetzt werden. Das ist eine ermutigende Vorgabe für den ersten hastigen Vorstich per Fahrrad in die Weiten der Karlsaue, der aufgrund der begrenzten Zeit zwangsweise unvollständig bleiben muss – wie die Beurteilung einer Großausstellung am ersten Tag der Pressepreview immer eine Unmöglichkeit darstellt.

In der Orangerie hat sich die documenta in die technische Sammlung eingefügt. So wurden dem frühen Computermodell Z11 des Erfinders Konrad Zuse dessen Ölbilder, Aquarelle, Filzstift- und Bleistiftzeichnungen gegenüber gestellt, die zwischen 1926 und 1967 entstanden und an in ihrer Konstruktion und Farbigkeit an Lyonel Feininger erinnern. In einer Figur begegnen sich hier die kosmische Offenheit malerischen Denkens und die digitale 0/1-Logik der Computer, gegen deren gewachsene Vorherrschaft diese documenta antritt, um den Tieren und den unbelebten Dingen ihr Recht und ihre Sprache zurückzugeben – wie in der fantastisch wirkenden Außeninstallation des derzeit gerne mit Insekten arbeitenden Pierre Huyghe: der Kopf einer Frauenskulptur ist mit einem runden Bienenstock umhegt, durch die umliegenden aufgeworfenen Erdhügel streift ein Hundehüter mit zwei Pudenkos, von denen einer ein pink gefärbtes Bein trägt.

Nach den Ausstellungen der letzten Jahre, die wie die 5. Berlin-Biennale das Erbe der Moderne befragten und als bereits historische Epoche zeigten, geht die Documenta einen Schritt weiter – ins Ungewisse. In seinem Buch „Wir sind nie modern gewesen“ beschreibt der Soziologe Bruno Latour die Moderne als komplexen Verfassungsvertrag, der die unbelebten Dinge der Ausbeutung preisgab, indem er ihnen die Handlungsmacht absprach. Was ist obskurer: die Vorstellung, dass, wie die Naturwissenschaften glaubten, Dinge im Labor ihre Natur quasi von selbst enthüllen – oder dass, wie die Animisten und die Kuratorin Christov-Bakargiev glauben, alle Materie belebt ist und im Austausch steht?

Zusammen mit anderen senegalesischen Künstlern bastelt der Senegalese Issa Samb am Beginn der Karlsaue an einer Installation, die das In- und Gegeneinander der Weltreligionen symbolisieren soll. Ein langes Holzkreuz lehnt in einem Baum, Puppen wehen im Wind, ein großes Kleid symbolisiert die senegalische Wunderheilerin Ndate Diagne. Ausgestreute Muscheln erinnern an die erste Währung des Senegals, bevor die Kolonialisten kamen.

Deren Eroberung der Welt liegt die selbe rationale Ordnung zugrunde wie der barocken Gartenanlage der Karlsaue, in der wie Gartenhäuschen die Künstlerpavillons verstreut sind. In einem Gewächshaus, selbst seit den Tropenhäusern ein Paradigma der Moderne, zeigt Jimmie Durham den Keil eines Neandertalers neben einer Gewehrkugel aus dem 20. Jahrhundert, begleitet von einem Text, der die Geschichte europäischer Zivilisation in einer simplifizierenden Sprache erklärt, wie man ihr in ethnologischen Museen begegnet. An die Angehörigen welcher Zivilisation könnte diese Tafel gerichtet sein? Jedenfalls nicht an einen Modernen, und so öffnet sich diese Ausstellung in Vergangenheit und Zukunft und entfaltet tatsächlich stellenweise die Wirkung einer archäologischen Ausgrabungsstätte – am deutlichsten in den riesigen Betonabgüssen von Glocken und Zahnrädern, die Adrián Villar Rojas zwischen Grabsteine über den Weinberg über der Karlsaue gestreut hat.

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