Kunst macht Staat

Déjà-vu in Graz: Wie die vergangene Berlin Biennale sucht auch das Festival Steirischer Herbst nach dem Konkreten in Kunst und Gesellschaft. Vor den Ausstellungseröffnungen gab es eine Woche Theorie

monopol, 27. September 2012

Wer was gegen Menschen hat, die im Ausstellungsraum debattieren, lesen, schrauben und kochen, sollte sich darauf einstellen, dass das Occupy-Camp auf der Berlin Biennale nicht die letzte Äußerung zum Thema war. Im Kunsthaus Graz wächst gerade eine ganze Stadt aus dem Boden, mit Markt, Bibliothek, Kinderkarussel und einer Fahrradwerkstatt, in der ausrangierte Räder repariert werden, um sie an Grazer oder Touristen zu verleihen. „Teilen und Verändern“ heißt die Ausstellung im Rahmen des Festivals Steirischer Herbst. Organisiert wird sie vom Kollektiv cittadellarte, das Michelangelo Pistoletto 1996 zur Verschmelzung aller Bereiche menschlicher Produktion gründete. Sie ist das Gegenstück zu Pistolettos Einzelausstellung in der Grazer Neuen Galerie, die seine frühen Spiegelgemälde und Minus-Objekte zeigt. Verschiedene Initiativen gestalten die Ausstellung gemeinsam, darunter ein Koch und die Macher des panafrikanischen Magazins Chimurenga. Wer Gegenstände oder sich selbst einbringt, bekommt ein Freiticket zum Wiederkommen.

Es ist eine Luxusausgabe von Occupy-Camps: Ruppig hebt sich die Lattenarchitektur des Berliner constructLab gegen die Raumschiffdecke des Hauses ab, das aus dem Kulturhauptstadtjahr 2003 stammt – Wahrzeichen für das inzwischen gebrochene Vertrauen in die Allianz zwischen Kultur und wirtschaftlicher Entwicklung.

Die Gestaltung des Sozialen mit Mitteln der Kunst ist ein Hauptthema in Graz. Während des einwöchigen Theorie-„Marathons“, der der Eröffnung der Ausstellungen am kommenden Samstag vorausgeht, wurde sogar die These aufgestellt, die Kunst erlebe gerade eine „historische Wende“, vergleichbar mit jener, die Duchamp anstieß.

Die Logik eines Kulturfestivals ist hier verkehrt: Statt teurer Namen der globalen Kulturlandschaft sind Vertreter künstlerischer, politischer und theoretischer Aktivitäten aus vielen Regionen der Erde geladen, darunter 100 vorwiegend jüngere Stipendiaten. Alex Dende aus Kinshasa erklärt, wie er Hip-Hop-Konzerte zur Aids-Aufklärung einsetzt. Federico Zukerfeld vom Theaterkollektiv Etcétera zeigt Filme über den Einsatz von Scheißbomben gegen Parlament und Bankfilialen in Buenos Aires. Und Kurator Khaled Hourani aus Ramallah lacht sich mit dem Direktor des Antwerpener Van-Abbe-Museums Charles Esche den Ast ab, als sie spätabends die Wirren um die Verleihung eines Picassos nach Palästina rekapitulieren.

Deja-vu: In Graz scheint sich dieser Tage die Berlin Biennale fortzusetzen. Nur lebendiger, publikumsfreundlicher. Dass sich viele Namen überschneiden, rührt daher, dass einige Recherchereisen gemeinsam geschahen. Er ist ihre Vervollständigung, er bietet das, was in Berlin fehlte: vielstimmige Debatten, produktive Widersprüche, Streit und offene Fragen.

Tag und Nacht dauert das Programm, jeden Morgen um fünf lädt das Theater im Bahnhof zur Erkundung des Grazer Potenzials für Hausbesetzungen. Danach gibt es Yoga. Von einem aktivistischen Camp hebt sich die Veranstaltung insofern ab, als Essen und Trinken aus der Theaterkantine kommen und das Programm strikt getaktet ist. Letzteres schafft in den besten Momenten eine Dramaturgie von Dichte und Dringlichkeit, eine gefühlte Synchronisierung mit dem Weltgeschehen. Und in den schlechteren ein Senden auf vielen Kanälen, eine Ablösung in viele kleine Welten. Die begleitende Ausstellung „Adaptation“ bemüht sich um kollaborative, prozessuale Arbeitsweisen, präsentiert dem uneingeweihten Besucher aber vor allem eine zerfleddernde Zettelwirtschaft individueller Assoziationen. Nur selten wird der Individualismus, dem viel das Wort geredet wird, überwunden – meist spricht doch jeder über die eigenen Projekte, und die von raumlabor entworfene Sperrmüllarchitektur dürfte nicht gerade helfen, kritische Kunst aus der ihr zugewiesenen Narrenrolle zu befreien. Eher stützt sie die Selbststigmatisierung linker Aktivitäten als alternativer Rummelplatz.

„Truth is concrete“, zitiert das Festivalmotto Brecht, der Lenin zitiert, der Hegel zitiert. Dem konsumistischen Blick soll die Auseinandersetzung mit Wahrheiten entgegen gestellt werden, um die allerdings gerade von den europaweit erstarkenden Rechtspopulisten mit Mitteln der Fiktion gerungen wird – hier kann kritische Kunst Raum erobern, ermuntert Philosophin Chantal Mouffe. Ein Beispiel gibt das israelische Performance-Kollektiv Public Movement, das am Freitag mit festlicher Gala eine Plakatkampagne startet, die durchaus ambivalent ein „Rebranding“ europäischer Muslime fordert.

Rechtspopulismus ist auch Thema der Ausstellung „Intoleranz / Normalität“ im Grazer Kunstverein mit Harun Farocki oder Discoteca Flaming Star. Während Camera Austria eine Neuproduktion der Videokünstlerin Anna Jermolaewa zeigt, kocht der Kunstverein Medienturm die Politik auf ein etwas unverbindlicheres Level runter, in einer klassischen Gruppenausstellung mit unter anderem Martin Beck und Claire Fontaine, gerahmt vom Werk Franz Erhard Walthers. Am Freitag wird hier Santiago Sierra einen großen Buchstaben aufbauen und zersägen lassen – Teil einer Serie, die er gerade weltweit durchführt.

Nostalgische Rückbezüge durchziehen Diskussionen wie Ausstellungen. Erfrischend sind da Positionen wie die von Public-Movement-Mitgründer Omer Krieger. Er organisierte in diesem Sommer Stipendien für Künstler im Stadtparlament Jerusalems. Mit seinem Versuch, die Bezeichnung „Staatskünstler“ ins Positive zu wenden, zeigt er nicht nur neue Handlungsmöglichkeiten auf; das satirisch anmutende Konzept provoziert auch Selbstbilder unschuldiger Kritik und Opposition. „Es gibt viele gute Staatskünstler“, sagt Krieger in seinem Vortrag. „Viele sitzen hier im Raum.“

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für kunstkritik 2012

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der Akademie der Künste 2018