Körper, aus den Fugen

Wenn es keine Würde mehr zu verlieren gibt: Der Fotograf Boris Mikhailov in der Berlinischen Galerie und in seiner Wohnung

Die Welt, 13. April 2012

Wie sieht die Zukunft aus? Der Neue Mensch, die klassenlose Gesellschaft, die Diktatur des Proletariats. Märsche und Gesänge, Panzer und Raketen, ein wehendes Flaggenmeer in Rot.

Wie sieht die Zukunft aus? Eine dicke Frau, nackt auf einem Schaumstofflager ausgestreckt, rauchend. Ein Trinkglas, einsam an einen Ast gehängt. Es ist die Zeit der Stagnation unter Generalsekretär Breschnew Ende der 60er-Jahre, und der Ingenieur Boris Mikhailov hat von seinem Vorgesetzten eine Kamera bekommen, um den Betrieb zu dokumentieren, eine Fabrik für Militär- und Raumfahrttechnik in der ukrainischen Stadt Charkow. Boris Mikhailov, Anfang dreißig, dokumentiert aber weit mehr: die unsicheren Körperhaltungen der Menschen beim Rumstehen auf der Straße; ärmliche Warenauslagen; nackte Frauen in den eigenen vier Wänden.

Wie er dazu komme, nackte Frauen zu fotografieren, fragen die KGB-Mitarbeiter bei einer Durchsuchung der Dunkelkammer. Mikhailov zeigt ihnen ein tschechisches Fotomagazin mit Akten.

"Sie dürfen das schon ansehen", sagen die Genossen. "Aber das heißt nicht, dass Sie das auch fotografieren dürfen." Mikhailovs Kamera wird konfisziert, sein Vorgesetzter entlässt ihn. Der Fotograf ist außer sich. "Ich musste mich wehren", sagt er heute. Die Verteidigung des eigenen Blicks gegen die Prüderie und Paranoia eines scheinheiligen Regimes wurde zum Antrieb für eine künstlerische Ausnahmekarriere, und jene frühen Fotos hängen heute unter dem Titel "Schwarzes Archiv" in der Berlinischen Galerie. Dort gibt eine Boris-Mikhailov-Retrospektive Gelegenheit, das stimulierende Werk dieses Eigenbrötlers zu entdecken, mit seinem schonungslosen Blick, mit seinem zärtlichen Witz.

Zwanzig Jahre zeigt Autodidakt Mikhailov seine Bilder hinter verschlossenen Türen in kleinen Künstlerzirkeln zwischen der Ukraine und Litauen. Bis am Ende sein Blick das System überdauert: Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs entdecken westliche Kuratoren den damals 50-Jährigen als großen Dokumentaristen des sowjetischen Alltags und Pionier osteuropäischer Konzeptkunst. Ein "Schock" seien Mikhailovs Bilder gewesen, erinnert sich der Berliner Kurator Frank Wagner, weil sie entgegen allen bekannten Bildern aus dem Osten ein Elend zeigten, das noch immer auf seiner eigenen Würde beharrt.

Auf Würde beharren: Dass das den Fetten, den Alten, den Armen, den Zernarbten bei Mikhailov noch immer gelänge, liest man häufig. Dabei liegt doch die sprengende Kraft von Mikhailovs Blick darin, dass er Figuren zeigt, die die Ökonomie der Würde komplett infrage stellen. Weil sie gar keine mehr zu verlieren haben.

Wie sieht die Zukunft aus? Blühende Landschaften, Luxusgüter für alle, eine freie Gesellschaft gleichberechtigter Kleinunternehmer. Boris Mikhailov zeigt nach 1990 mit seinen Serien "Am Boden" und "Dämmerung" den Übergang zur Marktwirtschaft in der Ukraine als Auflösung aller Koordinaten: Figuren in zerrissenen Kleidern, die über leere Straßen hetzen wie Vertriebene, verzerrt durch den Weitwinkel einer Panoramakamera, wie sie russische Spione benutzten. Mittendrin: lachende Mädchen, breitbeinig über einer Grube hängend. Im MoMA hängt Mikhailov 1999 diese Bilder auf Hüfthöhe und zwingt die Betrachter selbst in die Knie. Ein simpler konzeptueller Kniff, der beispielhaft ist für seine gezielt platzierten Herausforderungen.

"Time Is Out Of Joint" nennt sich die Berliner Ausstellung, Hamlet zitierend; aber nicht nur die Zeit ist hier aus den Fugen, die Perspektiven sind es auch, die Symmetrien sind es, und vor allem: die Körper. Sie hängen im Leeren, schlaff, verspannt - so wie Menschen gewöhnlich aussehen, wenn sie gerade keine Ideologien vermitteln und keine Produkte, oder, wie heute zunehmend gefragt, sich selbst. Mikhailov zeigt das nackte Leben, das die Abdrücke staatlicher Verwaltung trägt und sich zugleich deren Zuschreibungen entzieht. Im Katalog zur Berliner Ausstellung beschreibt Kunstkritiker Jan Verwoert das Werk Mikhailovs treffend als "grandiosen Akt der Zeugnisverweigerung".

Das nackte Leben ist ein beliebtes Gruselwort in Kunst und politischer Theorie. Was wohl mit dem unbestimmten Gefühl zusammenhängt, dass sich hinsichtlich gesellschaftlicher Bindungen und Menschenwürde gerade etwas Grundlegendes verschiebt. So stehen wir mit wohligem Schauer vor Mikhailovs Bildern und fragen: Sieht so nicht bald auch hier die Zukunft aus? Soziale Spaltung, geplatzter Asphalt, Armut, Tod? Nein, sagt Boris Mikhailov. "Charkow war damals so": Er zeichnet eine Talfahrt in die Luft - "Berlin ist immer so": und zeichnet eine Amplitude. Auf und ab, kein Problem.

Nun stellt auch eine Unterredung mit Mikhailov eine ganz eigene Form der Zeugnisverweigerung dar, schon wegen seines rudimentären Englischs. "Eine sehr wichtige Frage", sagt er und antwortet auf eine ganz andere Frage. Um von ihm wirklich belastbare Zitate zu bekommen, müsste man wohl Ukrainisch können, wenigstens Russisch. Allerdings berichten Leute, dass er auch darin ein eher sprunghafter Auskunftgeber ist.

Kurz vor der Ausstellung sitzt der Künstler in seiner lichtdurchfluteten Wilmersdorfer Wohnung leicht angespannt im Sessel, 73-jährig, die Schultern immer in Bewegung wie die blitzenden blauen Augen. Auf dem Sofatisch sind Miniaturen der Serie "Butterbrot" aus den Jahren um 1970 über den Aufriss einer Ausstellungswand gestreut. Er sei sich unsicher mit der Anordnung, erklärt der Fotograf. Überhaupt, die Drucke seien zu groß geraten, er bezweifle, dass das sinnvoll sei.

Die "Butterbrot"-Motive sind eine singuläre Erfindung Mikhailovs, übereinander montierte Diapositive, die den Konstruktivismus aufs Korn nehmen. Die Versprechen vom Aufbau des Kommunismus verschwinden im Hinterteil einer Frau, das sich über einen der vielen schlecht gemachten Neubauten legt. "Das heißt: Fuck you in the ass", grinst Mikhailov. Die Montagen sind codierte Sprengsätze gegen das sowjetische Selbstverständnis in der Bildsprache des Surrealismus. "Nein", sagt Boris Mikhailov. "Surrealismus handelt vom Metaphysischen. Ich suchte immer das Normale, das alltägliche Leben."

Nach seinem Rauswurf aus der Fabrik arbeitet Mikhailov als technischer Assistent in einem Fotostudio. Die Berliner Ausstellung zeigt private Motive, die Mikhailov aus dem Studio mitnimmt und, wie es damals üblich ist, mit Stift und Pinsel koloriert: Kleinbürger beim unbeholfenen Posieren mit einer Stalin-Figur; eine Puppe, die den Rock lupft. Mit seinen Manipulationen schafft er Travestien, die Selbstbilder und Hoffnungen von Individuen wie Gesellschaft in ironischer Aneignung bloßlegen. So kontrastiert etwa die "Rote Serie" offizielle Inszenierungen der Propagandafarbe Rot mit kleinen, alltäglichen Details: der rote Mantel einer Gebückten. Rote Straßenbahnwaggons. Eine Wunde. Die Brust einer Frau.

In der Wohnungstür dreht sich ein Schlüssel, Vita Mikhailov kommt nach Hause. Vita spricht das bessere Englisch, Boris fährt ihr dafür über den Mund, und so erzählen die Mikhailovs aus einem Boheme-Leben in ständiger Bedrohung: von Agenten, die in der Tür stehen und fragen, was Mikhailov wieder in Litauen gemacht hat, wo er öfter ist, weil Fotografen dort größere Freiheiten haben; oder wie er dort sein Bahnhofsschließfach öffnen will und der Schlüssel nicht mehr passt.

In der plötzlichen künstlerischen Freiheit nach der Wende gründen die Mikhailovs die Fast Reaction Group, die entlang von Bahngleisen gefundene Tampons sammelt und auf ein russisches Atomschlachtschiff bringt, "um die Macht des Militärs zu brechen". Und mit Vita und zwei befreundeten Künstlern unternimmt Mikhailov zum 50. Jahrestag der Befreiung burleske Rollenspiele in Wehrmachtsuniformen, mal wie christliche Andachtsbilder, mal wie SM-Spiele komponiert. "Wenn ich ein Deutscher wäre ..." heißt die Serie, die das komplexe Verhältnis von Opfern und Aggressoren hinterfragt. Als Kind jüdischer Vorfahren musste Mikhailov mit seiner Mutter vor den Deutschen fliehen.

Seine Frau hilft Mikhailov auch bei seiner bekanntesten Serie: "Krankengeschichte" porträtiert Ende der 90er die in Charkow neu entstandene Klasse der Obdachlosen. Sie blicken in der Berlinischen Galerie schmerzvoll von plakatgroßen Drucken, die in Format wie Komposition an Heiligenbilder erinnern. Die Entwürdigten zeigen ihre Wunden, entblößen ihre Geschlechter. Mikhailov wurde für die Bilder kritisiert, auch weil er seine Modelle bezahlte. Dabei liegt die Provokation dieser respektvollen Geste vielleicht darin, dass sie allzu deutlich vorführt, wie in kapitalistischen Gesellschaften Körper gehandelt werden, auch ohne dass ein Fotograf vorbeikommt.

Tatsächlich führt die Serie an den Kern von Mikhailovs Ansatz. Man denke sich etwa Thomas Struth, wie er für seine Museumsfotos aufwendig die Kamera im Pergamon justiert, dann im Prado, dann im Kunsthistorischen; man denke sich Andreas Gursky, wie er mit seinen Assistenten die Aufnahmen der nordkoreanischen Arirang-Festspiele ineinandermontiert, bis sich, schau, schau, die göttliche Perspektive auftut. Und dann denke man sich Boris Mikhailov, der über eine Charkower Straße stromert und aus der Hüfte einer breitbeinig sitzenden Händlerin zwischen die Beine knipst; und hinterher die Fotos mit blauer Farbe übermalt, um die Suggestion von Kriegszustand zu stärken. Dann versteht man, warum Boris Mikhailovs Methode so unverzichtbar ist.

Huldigt die Dokumentarfotografie gern dem Denken der Aufklärung mit seinem Glauben an objektiven Überblick, so sucht Mikhailov erst gar nicht nach souveräner Perspektive und moralischer Unantastbarkeit. Er zeigt Fotografie als Angriff aus dem Unterleib und Teil sozialer Tauschvorgänge. Er mischt sich ins Geschehen, mal als Händler, mal als Dieb: Auffällig ist die Häufung von Rückansichten. Boris Mikhailov, das ist das anarchistische Prinzip.

Seit seinem DAAD-Stipendium 1996 richtet Mikhailov seinen Blick auch auf Berlin. Diese Bilder zogen in der Ausstellung bisher, wie zu hören ist, die meiste Abwehr auf sich, oft verpackt in formale Argumente: die Abzüge zu groß, zu körnig. Dabei ist der Raum essenziell für die Ausstellung, weil er den exotistischen Blick auf den ohnehin als trostlos und kaputt gedachten Osten zurückwirft: der Obdachlose mit verklebtem Bart und stumpfem Blick, der Kerne aus Kirschen pult, die Hände blutrot, zum Triptychon gefügt wie ein Altarbild. Oder, aufreizend unspektakulär, die Rentner, strengen Blicks auf dem Kudamm ausschreitend oder hinter die Plane einer Würstchenbude gepresst: Sie zeigen die gleichen Körperhaltungen, die Mikhailov 1969 in der Ukraine fand. Diese älteren Paare, hängende Wangen, verkniffener Blick, in cremefarbenen Kostümen unschlüssig in kleinbürgerlichen Zerstreuungsangeboten herumstehend: Das ist dann wohl, so enttäuschend man das finden mag, die Zukunft.

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für kunstkritik 2012

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