Ich bin nur eine Stimme

Der Neue Berliner Kunstverein macht die Geschichte der Radiokunst begehbar

Der Tagesspiegel, 17. Februar 2010

„Ich bin nur eine Stimme.“ – „Eine Stimme kommt aus einem Hals. Wer fragt?“ – „Ich bin nur eine Stimme.“

Wie zwei Suchende, denen die Augen verbunden sind, tasten eine Männer- und eine Frauenstimme umeinander und kriegen sich nicht zu fassen. Auch der Ausstellungsbesucher sitzt im Neuen Berliner Kunstverein (NBK) unter Kopfhörern und horcht wie hypnotisiert der Endlosschleife aus Kai Grehns Hörspielbearbeitung von „Berlin Alexanderplatz“ nach. Wer spricht? Es ist das Rätsel des Radios, das die beiden Stimmen umkreisen und das unter allseitiger Beschallung selbstverständlich geworden ist: eine Stimme, die sich an den Körper wendet, aber selbst keinen hat.

Von der Faszination, die das Medium Rundfunk einst ausstrahlte, hat es im Lauf der Geschichte einiges eingebüßt. „Als das Radio aufkam, wurde es von Bildenden Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern begeistert aufgenommen“, erklärt NBK-Direktor Marius Babias, „im Sinne des Gesamtkunstwerks. Es war das Medium der historischen Avantgarde.“ Dann wurde es zum Medium des Faschismus und fand sich fortan in Deutschland mit Skepsis behandelt, zerschlagen in eine Landschaft einzelner Rundfunkanstalten unter föderaler Landesaufsicht. In diesem Ökosystem entstand allerdings ein Reichtum an künstlerischen Hörproduktionen, der weltweit einmalig ist – parallel zum Kunstbetrieb. Mit der Ausstellung „Sounds. Radio – Kunst – Neue Musik“ unternimmt das Kuratorenteam um Katrin Klingan nun erstmals einen räumlich erfahrbaren Überblick über die Geschichte der Radiokunst. Über hundert Arbeiten aus 80 Jahren wurden zusammengestellt, von Brechts Lindbergh-Flug über Werke von John Cage bis zu einer jüngeren Arbeit von Werner Fritsch. Ein flüchtiges Medium wird festgehalten. Es ist das Hören selbst, das hier mit auf dem Sockel steht.

Von draußen nimmt sich der NBK in der Chausseestraße aus wie ein Showroom für Hifi-Technik: Menschen sitzen da mit übereinander geschlagenen Beinen auf Sockeln unter Kopfhörern und blicken versonnen lächelnd ins Leere. Da will man dabei sein. Niedriger kann die Schwelle zur Kunsterfahrung nicht liegen. Einem Kunstverein mit aufklärerischem Anspruch steht das besonders gut.

Drinnen wird der Besucher gleich zum Akteur: Tritt er in einen der Kreise auf dem Fußboden, erklingt aus dem Lautsprecher über ihm der Ausschnitt einer Arbeit. Die sind thematisch gruppiert nach Literarischem Hörspiel, O-Ton-Experimenten, Feature, Doku und Klangkunst – eine Unterteilung, mit der die Kuratoren auch in ihrem geplanten Standardwerk das Erbe der Hörkunst sortieren möchten. Jede Arbeit lässt sich auf einem Sofa in voller Länge hören. Sei es Absicht oder Zufall: Nur wenn der Hörer in Bewegung bleibt, bleibt es auch der Klang. Brechts Forderung, der Rundfunk sei „aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln“, ist hier charmant Rechnung getragen. Mit der netzhaften Strukturierung des Inhalts, die dem Gast überlässt, an welchem Punkt er wie tief einsteigt, setzt die Ausstellungsgestaltung Maßstäbe.

In der Mitte jeder Themengruppe laden Kopfhörer ein, sich auf einem Sockel niederzulassen und dem jeweiligen Hauptdarsteller zu lauschen: fünf Produktionen, die in den letzten drei Jahren in Kooperation mit den vom Bund getragenen deutsch-tschechischen Kulturprojekten entstanden sind. Der Autor Jáchym Topol, der in den Achtzigern im tschechischen Untergrund aktiv war, entführt da in einen frösteln machenden Erinnerungstrip durch die Spuren der Vernichtungskriege, der in eine Farce über Gedenktourismus mündet.

Die renommierten Radiokünstler Peter Cusack und Miloš Vojtechovský haben Einwohner Prags um ihre Lieblingsgeräusche gebeten und daraus eine akustische Topografie der Stadt geschaffen. Auch hier ist das Radio ein Forum, das von Hörern mitgestaltet wird, ganz im Sinne Brechts und gegen den heutigen Rundfunktrend, wo in Höreranrufen und Gewinnspielen Interaktion simuliert wird und dennoch die Rollen fest verteilt sind. Medien produzierten Nichtkommunikation, konstatierte Jean Baudrillard finster gegen Brecht. Der mag in seinem vorschnellen Optimismus, Radio könne in alle Richtungen kommunizieren, den Rundfunk tatsächlich mit dem noch zu erfindenden Internet verwechselt haben. Es wäre denn auch der nächste konsequente Schritt, die in der Ausstellung erschlossenen Produktionen online zugänglich zu machen. Das Einholen der Rechte war allerdings schon jetzt kompliziert genug.

Medien mögen im 20. Jahrhundert den Individualismus bis hin zur Isolation begünstigt haben. Dass sie, gerade im Bund mit der Kunst, auch den Ausweg daraus bieten können, beweist Katerina Šedá, die schon auf der letzten Berlin Biennale einlud, über Zäune zu klettern. Das mit Rolf Simmen produzierte Hörspiel „In einem Fort“ dokumentiert ihre Anstrengung, die Grundstücke der Nachbarschaft in ihrem Heimatort zu durchqueren, deren Zäune nach dem Fall der Mauer höher und höher wachsen. Man hört ihr Schnaufen, hört Hundegebell, hört besorgte Nachbarinnen von Polizei sprechen. Und man hört, wie die Künstlerin neue Bekanntschaften schließt und Telefonnummern tauscht.

Am Eröffnungswochenende erlebte die Ausstellung bereits einen bemerkenswerten Andrang. Es zeigt sich wieder, dass Berlin ein großes Publikum hat, das an den Grenzbereichen von Musik und Bildender Kunst interessiert ist. Seit 1981 unterhält hier Ursula Block den weltweit führenden Laden für Neue Musik. Sie ist für die Ausstellung in den NBK gezogen und verkauft Aufnahmen von der Tödlichen Doris bis John Cage. An der Wand zeigt sie eine Austellung in der Ausstellung: „Denkbare Partituren“, konzeptuelle Spielanweisungen von Beuys bis Nam June Paik.

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für kunstkritik 2012

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