Ich bin ein Avatar, holt mich hier raus!

Seine Videos sind Travestien von Reality-TV und geben eine Vorahnung auf die Welt nach den Menschen: Ryan Trecartin, Star der „Post Internet Art“. Ein Besuch in Los Angeles

Welt am Sonntag, 16. März 2014

Werden die Filme, die Bücher, die Gemälde und Skulpturen, die heute kanonbildend sind, in Zukunft noch verstanden werden? Oder werden sie ein künftiges Publikum ähnlich überfordern wie heutige Betrachter die Filme Ryan Trecartins, mit ihren hyperschnellen Schnitten, grellen Digitaleffekten und dauerplappernden Selbstdarstellern auf Ritalin?

Werden Kunstwerke überhaupt noch auf Personen im heutigen Sinne treffen? Oder werden Avatare aus dem Internet auf die entvölkerte analoge Welt starren, mit zuckenden Bewegungen und nervös rollenden Echsenaugen, Figuren wie in Trecartins Filmen?

Vielleicht werden sie am Wochenende, so es noch Wochenenden gibt, mit der Familie, so es noch Familien gibt, zwischen uns Zeitungslesern und Museumsbesucherinnen umher geistern, die wir als anfassbare 3D-Animationen unser ewiges Fortleben finden werden: Footage, Daten, Schnittmasse. Denn „alles wird aufgenommen werden“, erklärt Ryan Trecartin auf dem Gartenstuhl im Hof seines Ateliers in Los Angeles, während die Nachmittagssonne über unsere analogen Gesichter streift, um oben hinter dem Mulholland Drive zu vergehen. Castingshows, Selfies und Abhörprogramme werden dann nur Vorübungen gewesen sein für eine Welt, in der alles Lebendige bis in den Code hinein erfasst sein wird, nach Belieben replizierbar und veränderbar. Trecartin: „Wow. Das wird cool.“

Es ist etwa neun Jahre her, dass die Filmkünstlerin Sue de Beer der deutschen Kuratorin Ellen Blumenstein von einem durchgeknallten jungen Künstler vorschwärmte, den sie während eines Seminars an der Rhode Island School of Design entdeckt hatte. In seinem ersten Kurzfilm „A Family Finds Entertainment“ spielte Trecartin einen Teenager, der sich im Schrank versteckt, das Elternhaus verlässt, von einer Dokumentarfilmerin bedrängt wird und vor deren laufender Kamera von einem Auto überrollt wird, um in einer bunten Party wiederaufzuerstehen. In Schnitt und Kameraführung wirkt der Film, der auf YouTube zu sehen ist, ähnlich verwildert wie die Pioniertaten des Undergroundkinos von Jack Smith oder Kenneth Anger in den Sechzigern – allerdings mit den Mitteln digitaler Technik und ungefähr hundert mal so schnell. Kommentar eines YouTube-Nutzers: „what the fuck did i just watch“. „Bis dahin hatte Kunst, die sich mit Internet und Animation beschäftigte , immer billig ausgesehen“, erinnert sich Blumenstein, die Trecartin 2007 als eine der ersten in Europa ausstellte. „Das war eine ganz neue Art mit visueller Kultur umzugehen.“ Im September eröffnet die Kuratorin der Berliner Kunst-Werke die erste Einzelausstellung Trecartins in Deutschland.

In den USA wird der 1981 geborene Trecartin schon seit Jahren gefeiert, als radikalster Vertreter einer Künstlergeneration, die mit dem Internet aufgewachsen ist und deren Arbeiten spüren lassen, wie sich die Organisation von Wissen und Werten grundlegend verändert. Massimiliano Gioni, Kurator der letzten Venedig-Biennale, erinnert sich noch lebhaft daran, wie er zum ersten Mal den Film „I-Be-Area“ sah, in dem eine Familie als Kleinunternehmen ein Snuff-Video mit der Mutter als Opfer dreht (gespielt von Trecartin selbst): „Die Arbeit war so verrückt in Tempo und Komplexität, dass ich mich plötzlich alt fühlte. Sein Einsatz von Farbe, Sprache und Schnitt wirkt wie James Joyces ‚Finnegans Wake‘ auf Twitter. Ich verstand, dass hier eine völlig neue Generation ankam, mit einer radikal neuen Ästhetik.“ Es war Trecartins Werk, das Gioni dazu brachte, eine Triennale für Junge Kunst am New Yorker New Museum ins Leben zu rufen. Für die dritte Ausgabe im nächsten Jahr ist der 32jährige Trecartin Ko-Kurator. Längst ist er in privaten Videosammlungen vertreten, wie von Anita Zabludowicz, Julia Stoschek oder Ingvild Goetz. Goetz sprang auch schon mit Vorschüssen für Produktionen ein, deren Kosten berüchtigt sind und manchen Galeristen die Reißlinie ziehen ließen.

Auf der Venedig-Biennale überließ Gioni Trecartin eine ganze Halle. Die Bildhauerin Lizzie Fitch, die sich schon immer um Set- und Ausstellungsdesign kümmert, steuerte Installationen bei, die wirkten wie Albträume von Gartenlauben, Hühnerställen oder Möbelhaus-Kinderecken. Darin lümmelte man auf Kissen und Pressspan unter Kopfhörern und wurde von bis zu drei Leinwänden zugleich, auch von der Decke, mit einem Schnellfeuer aus Schnitten und Soundeffekten malträtiert. „Wir stammen von Animationen ab. Und diese Animationen stammen von Menschen ab“, erklärt im 53-Minüter „Center Jenny“ ein fiktiver Universitätsdozent mit lila Glatze und Echsen-Kontaktlinsen einem Kreis junger Zuhörer, die, teils am ganzen Körper grün geschminkt, in einer Mischung aus Sauna- und Fernsehstudioarchitektur lungern, umstanden von Leuten mit Polizeischilden, die lebhaft mitdiskutieren. Ständig wird der Vortrag unterbrochen von unmotivierten Achssprüngen, von Einmischungen der Regisseurin – Trecartin, der mit Perücke und Kamera im Geschehen herum stapft – oder von Zuhörern, die in die Kamera elaborieren, wie sie den Kapitalismus vermissen und wie cool Sexismus gewesen sein muss, damals, als es noch Menschen gab und Monogamie.

In diesem queeren Digital-Hippie-Happening kommt keine Aussage zum Ende, Figuren ändern, während sie sprechen, Namen und Geschlecht und kippen ständig in narzisstische Selbstbekenntnisse wie: „Ich glaube nicht mehr an Tagebücher, ich notier’ mir Sachen auf der Rückseite meines Auges.“ Das frontale Adressieren der Kamera, das auch auf YouTube-Blogs an die Stelle der immer leicht abgewandten Interview-Position tritt, gehört zum Kern von Trecartins Bildsprache. Immer ist man zu nah dran an diesen Figuren, die keine authentischen Charaktere mehr darstellen, sondern nur fortlaufend darauf drängen, sich als Bildmaterial in einen Markt der Aufmerksamkeit einzuschreiben – soziale Beziehungen als Hochtransferhandel ohne Schließzeiten.

„Das war wunderbar“, sagt jemand. „Ja“, sagt jemand anderes. „Und genau darum haben wir abgebrochen.“ Video wie Ton werden dauernd beschleunigt und abgebremst und in vielen Spuren und Fenstern über- und ineinander montiert, zu einem Stottern und Pressen disparater Elemente wie in Dubstep-Produktionen, so dass es sich anfühlt, als würde die ganze Zeit die Schädeldecke splittern.

Als deutscher Theatergänger fühlt man sich (wie schon Jörg Heiser in der FAZ bemerkte) an die Stücke von René Pollesch erinnert: Gesellschaftliche Verhältnisse sprechen in Slogans durch hysterische Figuren hindurch, in kreisender Dramaturgie und so schnell, dass die Einzelinformationen jeden Überblick sabotieren. Trecartins Filme sind überfordernd, sinnbetäubend, nervtötend und distanzlos. Sie sind Post-Film, Post-Internet, Post-Selbstausdruck. Post-Privat, Post-Kernfamilie. Post-Pop, Post-Kulturindustrie, Post-Camp. Post-Kritik. Post-Kunst. Oder, wie es ein Vimeo-Nutzer ausdrückt: „consistent reality swarm identification paralysis tech“. Sie sind ungefähr so wie…

Fernsehen. Ja, ist man einmal von Trecartins überdrehter Ästhetik kontaminiert, glaubt man sie, zumindest in den USA, auf allen Kanälen zu erkennen: in „Americas Next Top Model“, „The Real Housewives“ oder „RuPaul’s Drag Race“. Selbst beim immer schlecht ins Bild montierten ARD-Brüssel-Korrespondenten Christian Feld muss man plötzlich an Trecartin denken. Und in jedem Gespräch, in dem jemand in zusammenhangslose Selbstbekenntnisse verfällt. Und immer, wenn man beim Artikelschreiben noch gleichzeitig über Telefon, Facebook, E-Mail und Threema kommuniziert: Hell yeah, die Welt ist aus den Fugen, überall hängen die Drähte raus.

In den Fitch Trecartin Studios in Burbank, dem Hinterhof Hollywoods, zwischen Aluminiumwerkstätten und mexikanischen Importlagern, liegt das Set aus „Center Jenny“ verwaist da, als wären nach dem Hurrikan die Aufräumtrupps ausgeblieben (Trecartins erstes Atelier in New Orleans wurde tatsächlich 2005 samt Inhalt durch Hurrikan Katrina verwüstet). Männer schieben den grün gestrichenen Van in den Hof, dessen Windschutzscheibe im Film zertrümmert wurde – im Dreh für Berlin soll er nochmal Verwendung finden. Eine quirlige, lockige Frau mit Kartonröhren unter dem Arm stellt sich als Lizzie Fitch vor, und dann ist da noch ein unscheinbarer Mann, höflich, offenes Lächeln, ein Smiley im Aufrechtsgang… Ohne Perücke und Schminke sieht Trecartin aus wie der Durchschnitts-Schwiegermutterliebling. Fitch muss noch mal schnell zur 3D-Druckerei; Trecartin, eben erst verkatert von einer Kunst-und-Technik-Konferenz in Mexico City zurück, spendiert Energy Drinks und Tacos aus der Mikrowelle.

Sein anthropologischer Antrieb ließ Trecartin schon 1999 Mitschüler auf Verwüstungstour durch Vorgärten filmen. Als er das Material dreizehn Jahre später für den Film „Junior War“ sichtete, war er verblüfft, wie anders man sich einst vor der Kamera verhielt: Die Gefilmten erlebten sie als schwer einschätzbaren Eindringling, dem man mit Skepsis begegnete oder glaubte, erklären zu müssen, was man tut. Die Kamera stand dem Geschehen gegenüber – während sie heute zum Akteur geworden ist, der die soziale Interaktion oft erst anstiftet: in Museen, auf Reisen, in Schulhofschlägereien, beim Sex.

Die Subversion von Konsumgesellschaft und patriarchalen Familienstrukturen verbindet Trecartin mit älteren Westcoast-Künstlern wie Paul McCarthy oder Mike Kelley, oder dem „Pope of Trash“ John Waters. Er selbst kann mit Referenzen aber nicht viel anfangen. „Die Leute denken immer, ich lüge oder bin ein Idiot, der sich nicht für Kunst interessiert.“ Es trug zu Trecartins Exotenstatus bei, dass er zwar früh mit Kostümen und Kameras experimentierte, aber, aufgewachsen in der ländlichen Kleinstadt Whitehouse in Ohio, bis zur Oberstufe keine Ahnung von Kunst hatte. Eine Lehrerin zeigte ihm damals das Werk Cindy Shermans. Legen deren Verkleidungen den Einfluss der Gesellschaft auf persönliche Identität offen, beziehen Trecartins Travestien auch den Einfluss von Medien ein.

Er selbst ist ganz Netzwerkmensch, gerne verweist er auf Äußerungen anderer oder lässt Sätze nach der Hälfte ins Leere fallen. Auf die Frage nach interessanten Künstlern nennt er keine Namen, sondern die Website dismagazine.com, auf der sich hippe Kulturtheoretiker in Essays und Bildstrecken mit Veränderungen im Verhältnis von Technik, Bild und Körper auseinandersetzen – und der eine Vorreiterrolle in der aktuellen Debatte über „Post-Internet Art“ und „New Aesthetics“ zukommt.

„Kunst inspiriert mich nicht“, sagt Trecartin. Lieber spricht er über neue Kameras, die in 360 Grad aufzeichnen und mit denen er die Aufhebung des alten Sender/Empfänger-Modells weiter treiben möchte, um vielleicht bald begehbare Filme zu drehen. Sein Kunstbegriff ist recht offen: „Jeder ist heute eine kulturelle Figur und sein eigener Content Manager. Selbst meine Mutter kann sich jetzt in Zwischentönen ausdrücken, die selbstreflexiv den Blick Anderer vorwegnehmen.“ Damit wäre die Verhipsterisierung der Welt erfolgreich abgeschlossen.

Der gemeinschaftlichen Arbeitsweise entspricht Trecartins Leben: Fünf Minuten von hier wohnt er in einer Künstler-WG ohne feste Zimmeraufteilung, mit Fitch und weiteren Freunden, die auch in seinen Filmen auftauchen – etwa Modedesigner Clemens Telfar, der immer versonnen an der Kamera klebt wie am Handyspiegel und dem Trecartin extra schwierige Sätze zuteilt, weil er es liebt, wie Telfar sie verdreht.

„Es muss sehr Gaskammer-mäßig sein: Du gehst rein und kommst nicht raus“: Auch, wenn man es den Filmen mit ihren Schnellschüssen und Entgleisungen in High-School-Humor nicht unbedingt ansieht – für alle schrieb Trecartin Drehbücher, und jede Zeile wird um die 25 mal eingesprochen. Der Aufwand, der dann in die Postproduktion geht, lässt sich in einer Serie von Fotomontagen erahnen, deren Entstehung Trecartin auf dismagazine.com dokumentiert hat. Im Internet gefundene Bilder von Desktop-Icons, Karabinerhaken, Lenkrädern, PayPal-Logos und weiterem Schrott einer von Zeichen und Marken überbevölkerten Welt montiert er mit Porträtfotos von Freunden zu absurd überfrachteten Cyborgs.

Trecartins Sehschule hilft, in Medienbildern weniger Menschen zu sehen, die sich Medien bedienen, und eher Medien, die sich Menschen bedienen. Sie schärft die Wahrnehmung für die Allanwesenheit optischer und akustischer Manipulation – indem sie diese noch mal zwanzig Umdrehungen weiter treibt. In seinen Filmen umschwirren uns die Dinge und Zeichen, die geschaffen wurden, uns Orientierung zu geben, wie Spottgespenster. Damit gelingt Trecartin ein zeitgenössisches, medienreflexives Update des Surrealismus – ein Digital-Surrealismus, der das Verdrängte der medialen Konditionierungen und Formeln zutage bringt, die Kommunikation am Ende der Gründerzeit des Internets regeln. Beim ersten Anschauen ist man paralysiert. Beim fünften versteht man die Paralysen ein Stück besser, die man als vernetztes Echtzeitwesen selber hat.

Ähnlich irritierend mag einst die Auflösung verlässlicher Bildkompositionen in die Zentralperspektive gewirkt haben, bis zu den halluzinatorischen Wimmelbildern Brueghel des Älteren. Oder die Kaufmänner, die in Renaissance-Porträts an die Stelle von Heiligen traten, in einem Moment, als sich das Subjektsein auf ähnlich tiefgreifende Weise veränderte wie jetzt. Oder die Theaterrevuen der Futuristen, die den industriellen Wandel so euphorisch begrüßten wie Trecartin den digitalen. Nur dass deren machistische Manifeste sie in den Faschismus führten, während Trecartins Technikoptimismus im Bündnis mit queerer Theorie eine Gesellschaft von frei aushandelbaren, fließenden Identitäten kommen sieht, die sich irgendwann auch ihre Körper nach Belieben werden formen können.

In jeder neuen Technik sieht Trecartin Tools, um tolle Sachen anzustellen. Nur beim Thema NSA wird er plötzlich lange still. „Reality TV war Kampfausbildung“, erklärt er: „Jeder hat gelernt, mit Selbstentblößung umzugehen.“ Und der Umgang mit ständiger Überwachung sei Training in Selbstzensur – für den Fall, dass noch schlimmeres kommt.

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für kunstkritik 2012

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der Akademie der Künste 2018