Drift ins Himmlische

Die Londoner Tate Modern feiert Gerhard Richter mit einer großen Retrospektive

Der Tagesspiegel, 11. Oktober 2011

Vielleicht sind an keinem anderen Ort das System Museum und das System Ikea so eng geführt wie in der Londoner Tate Modern. Nicht weil hier irgendetwas falsch gemacht wurde, eher weil die Einrichtung so überaus gelungen ist: das matte Parkett, das Licht, die elegant geschwungenen Bänke – alles ist so eingerichtet, dass man am liebsten einziehen möchte. Und wenn man sich mit den Besuchermengen durch die Gerhard-Richter-Retrospektive geschoben hat, verschwimmt im Tate-Café, das den Weg in den letzten Ausstellungsraum unterbricht, der überanstrengte Blick vor den Tate-Muffins und dem Tate-Shortbread ähnlich wie die graue Farbe in Richters frühen Gemälden aus der bundesdeutschen Konsumkultur.

Die Ausstellung selbst, mit der London, nachdem Richard Hamilton und Lucian Freud gestorben sind, den "größten lebenden Maler" ("Sunday Times") feiert, arbeitet der Möbelhaus-Assoziation nicht unbedingt entgegen: die Fensterskulpturen, der "Spiegel" von 1981 und die Metallkugel, die beiläufig neben "Betty" am Boden liegt – je nachdem, wie man die Objekte betrachtet, wirken sie so banal wie wohl ursprünglich vom Künstler intendiert. Die sich vom Betrachter abwendende Betty taucht übrigens im Shop wieder auf – als Print für's Wohnzimmer.

Die Pointe daran ist, dass Richters erste nennenswerte Ausstellung in einem Möbelhaus stattfand; in Düsseldorf, wo er 1963 mit Sigmar Polke und Konrad Lueg den "Kapitalistischen Realismus" ausrief. Und welches Bild eröffnet die Londoner Ausstellung als Nummer 1 des Werkverzeichnisses? Ein Tisch!

Warenhaus und modernes Museum wurzeln beide in den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, beide sind Manufakturen des Begehrens. Und im ehemaligen Heizkraftwerk der Tate Modern kommen Sakrales und Profanes auf beispielhafte Weise zur Deckung – anders als in Richters Werk, das diesen Gegensatz als unauflösbare Spannung produktiv hält.

Da hängt eine "Kerze" von 1982, genau so eine wie sie 2008 für 10,57 Millionen Euro über den Tisch ging und Richter zum teuersten lebenden deutschen Maler machte; und wie die, die am Freitag während der Frieze-Messe bei Christie's für geschätzte 6,8 bis 10 Millionen Euro zum Verkauf steht. "Absurd wie die Bankenkrise", findet das der Schöpfer selbst – "unverständlich, albern, unangenehm."

Über fünfundzwanzig Kerzenbilder, so ist zu lernen, hat Richter zwischen 1982 und 1983 gemalt. Fünfundzwanzig! Die immer neue Wiederholung wirkt wie eine rituelle Abwehrhandlung gegen die suggestive Kraft des Kitsches – und hatte doch die umgekehrte Wirkung, dass Richter Stimmungen von "Kontemplation, Erinnerung, Stille und Tod" verspürte. Wie Pygmalion sich in sein Werk verliebt, verfällt der Maler dem Sujet. Das Bild erweist sich als stärker. Der Künstler verführt sich selbst.

Richter galt bis in die Achtziger als kühl, seine konzeptuellen Gemälde schienen vom allseits beschworenen Ende der Malerei zu handeln. Aber diese Schau räumt noch den letzten Zweifel aus: Gerhard Richter liebt die Malerei. Er ist auch bei weitem ein interessanterer Maler als ein Bildhauer. Sein skulpturales Werk ist vorrangig als Abstandsgewinnung zu verstehen, als Vermessung und Objektivierung des Schaffens auf Leinwand.

"Gerhard Richter: Panorama" wurde mit den Kuratoren von Neuer Nationalgalerie und Centre Pompidou erarbeitet, wohin die Ausstellung anschließend mit leicht anderen Schwerpunkten weiter wandert. Wenn die Version von Tate-Kurator Mark Godfrey sich durch ein besonderes Verdienst auszeichnet, dann ist es die wissenschaftliche Klarheit, mit der sie Richters Schaffen mit allen Brüchen und Widersprüchen chronologisch erschließt. Und wenn man ihr einen Vorwurf machen kann, dann eben diesen: dass sie sich allzu gehorsam vor dem Werk verneigt und hinter dessen experimentellem Charakter zurückbleibt.

Wie im Zerrspiegel reflektiert Richters Werk die Strömungen der Nachkriegskunst: Abstrakter Expressionismus in den gestischen Pinselstrichen, die das realistische Tischbild durchkreuzen; Pop-Art in den abgemalten Magazinmotiven; Farbfeldmalerei in den grauen Monochromen; Konzeptkunst in den zufallsgenerierten Farbtafeln; Junge Wilde in den grellen Abstrakten der frühen Achtziger. Richter hat noch zu jeder Schule einen überlegenen Kommentar gefunden und mit seiner Kombination aus unabhängigem Spiel und handwerklicher Meisterschaft die Flucht in historische Finalitäten verstellt – vor allem sich selbst.

Als andere sich Video und Installation zuwandten, malte Richter Seestücke; und demonstrierte, dass es mit der Hinwendung der Pop Art zum Banalen nicht zu Ende ist. Schon wegen der metaphysischen Aura des Tafelbildes, die Richter weit subtiler nutzte als Andy Warhol.

Wenn in "Seestück (See-See)" von 1970 anstelle des Himmels ein zweites Meer auf dem Kopf steht, ist das eine Persiflage auf die Natursehnsucht der Romantik – zugleich aber ein wirklich erhabenes Bild im romantischen Sinne. Im Zickzackspiel zwischen Kommentar und Hingabe, zwischen Zweifel und Affirmation, zwischen Realismus und Abstraktion, hat Richter sich eine exterritoriale Freiheit des "Und-dennoch" erarbeitet, die ihn prinzipiell alles malen lässt, Blumenbouqets etwa und Totenköpfe.

So ist nach den Luftbildern wiederaufgebauter Städte, die im dicken Pinselstrich erneut zu Trümmerfeldern werden, und nach den grauen Monochromen, die noch den kleinsten Schattenwurf des Farbauftrags zum Thema machen, der Weg wieder frei für das Himmlische: Entwaffnend schweben da die blaugrau schimmernden Leinwände des Triptychons "Wolke" von 1970, als wären die hermetischen Flächen des Colourfield Painting nur Jalousien gewesen, die zu öffnen jemand vergessen hat. Und in der Nähe hängt eine virtuose Kopie von Tizians "Verkündigung", angefertigt nach einer Postkarte. Richter gab dazu lapidar an, er habe sich einen Tizian für's Wohnzimmer gewünscht. Dabei scheint es zu sein wie bei der Kerze: Er startet als Zyniker und driftet in die Herrlichkeit. Später führt das zu berückenden Landschaftsbildern.

Im umfangreichen Katalog in schickem 50er-Jahre-Design berichtet Christine Mehring von Briefen, die ein isolierter Richter nach der Übersiedlung 1961 an Freund Helmut Heinze in Dresden schrieb. Bei ihm fand Richter nach der Wende seine Linoldruckserie "Elbe" von 1957 wieder. "So einfach kann es nicht sein" – mit dem Gedanken habe er als Student die Drucke abgetan, erzählt Richter im Gespräch mit Tate-Modern-Direktor Nicholas Serota. Nachdem sie letztes Jahr in einer von Heinze kuratierten Ausstellung bei Dresden Premiere hatten, schließen sie nun in der Tate einen Bogen zu Richters jüngerem abstrakten Werk. Welches wiederum unterstreicht, dass es, wo echte Farbe klebt, reine Abstraktion nicht gibt.

Die Erfahrung von Exterritorialität, die Richter mit Duchamp teilte, mag eine Grunderfahrung sein. Immerhin tat Richter alles, um sie zu wahren. Er verließ ein graues Land, in dem er bunte Staatsgemälde gefertigt hatte, ging in ein etwas bunteres Land und malte graue Bilder. Wie "Tante Marianne", jenes ikonische Selbstporträt als Baby im Schoß der Tante, die dem nationalsozialistischen Euthanasie-Programm zum Opfer fiel – ein gespenstisches Ineinander aus Ferne und Dringlichkeit, wie es auch den Zyklus "18. Oktober 1977" über den Deutschen Herbst auszeichnet, in dem Richter mit den Mitteln der Massenmedien das Historiengemälde neu belebte.

Ulrike Meinhof wird da zu einer Allegorie der Jugend verjüngt – und erscheint nach dem Kreuzgang über Verhaftungs- und Begräbnisszenen als "Tote" wieder wie ein aufgebahrter Christuskopf; ein sakrales Vanitasmotiv mit barocker Kraft.

Vielleicht ist es da am Ende nur eine notwendige Geste ironischer Brechung, dass Richters "48 Portraits" von Geistesgrößen und sein zwanzig Meter langes Gemälde eines vergrößerten Pinselstrichs, gehängt an den Wänden des Tate-Cafés, wirken wie Einrichtungsvorschläge in einem Möbelhaus.

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018