Böse Miene, gutes Spiel

Das Monster aus der Mitte der Gesellschaft: Rammstein im Berliner Velodrom

Der Tagesspiegel, 20. Dezember 2009

Die Vorband hat gespielt, die Menge sich in Stimmung getrunken, die Lichter sind aus. Und was tut sich auf der Bühne? Nichts. Aus dem Innenraum steigen rhythmische Chöre ins Rund des Velodroms: „Rrramm! Stein! Rrramm! Stein!“ Wie die Kampfschreie eines Urvolks, das vor der schwarzen Grotte des Ungeheuers darauf wartet, dass es sich der finalen Schlacht stellt. Je länger die Bestie warten lässt, desto höher steigt die Spannung, wird jede Regung zum Zeichen. Da unten vor der Bühne – ist das nicht ein Pentagramm aus Kerzen? Ach nein, es sind die Displays der Digitalkameras, die Fackeln unseres Jahrtausends.

Endlich: ein dunkles Heulen wie von fernen Sirenen, gleißendes Licht bricht durch die Bühnenwand wie Flak-Scheinwerfer. Bassist und Gitarrist schlagen sich mit Äxten den Weg frei, und aus der Mitte schreitet wie aus einer großen, brennenden Vagina der Oberschreck der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien höchstselbst: Rammstein-Sänger Till Lindemann. „Manche führen, manche folgen“, singt er in der Intonation alter Moritatensänger, „Böse Miene, gutes Spiel.“

Mit dem „Rammlied“ inszeniert Deutschlands meistgefürchtete Band jeden Konzertbeginn ihrer aktuellen Tour als Geburt; die Geburt eines Monsters, das nach jedem Kampf neu aufersteht. Dieses Monster kennt nur das Geradeaus: „Ich will Eure Blicke spüren / Jeden Herzschlag kontrollieren“. Dieses Monster ist einsam: „Und der Haifisch der hat Tränen“. Seine Reflexionsgabe reicht gerade für die Weiterleitung der Reflexe aus dem Vegetativen Nervensystem: „Mir ist kalt“. Und Kontakt zu anderen kennt es nur als Rechtsanspruch („Liebe ist für alle da“) oder als Schmerz, wie im Anfang November indizierten Stück „Ich tu dir weh“.

Es ist das Spiel mit dem Feuer, das die Band und ihre Hörer reizt: Wie weit können wir gehen? Wenn Lindemann in der Sextourismus-Persiflage „Pussy“ unzweideutig seinen Unterleib gegen die Schaumkanone stößt, mit der er das Publikum beglückt, erinnert er an Elvis Presley, der wegen seines skandalösen Hüftschwungs im Fernsehen nur ab der Taille aufwärts gezeigt werden durfte.

Es ist auch das Spiel mit dem Feuer, das die Show bestimmt: Da ejakulieren Flammen, stürzen Feuer von der Decke, rasen Raketen vom Ende der Halle auf die Bühne und am Ende brennt die ganze Wand. Mit jedem Flammenwurf schießen Hitzewellen ins Publikum. Vier Tage hintereinander inszenieren Rammstein im Velodrom ihr Weihnachtsoratorium und markieren damit den vorläufigen Höhepunkt ihrer Karriere.

Das Phänomen Rammstein ist nur live zu verstehen. Nicht nur weil in diesem wagnerianischen Totaltheater in Leni-Riefenstahl-Ästhetik die wahrlich wenig abwechslungsreiche Musik zu ihrer Bestimmung findet. Auch, weil man hier die Menschen trifft, die sie mögen. Die sind erstaunlich durchschnittlich – und das Durchschnittsalter erstaunlich hoch. Überwiegend männliche Bomberjackenträger treffen auf ergraute Lehrerpaare wie auf Kleinfamilien. Im Raum steht eine aggressive Skepsis, das Bestehen auf freier Sicht und Durchgang zum gesicherten Sitzplatz.

Rammstein sind nicht die militante Aufbauhilfe für verunsicherte Jugendliche mit Amokläuferpotenzial. Rammstein sind Cabaret. Wenn Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz wie Charlie Chaplin im Spot tanzt, wenn er in SM-Spielen von Lindemann in der Badewanne ermordet wird um wieder aufzuerstehen, den SS-Mantel getauscht gegen einen Paillettenanzug, fügt sich alles zusammen in eine perfekt getimte, überwältigende Nummernrevue, die extreme Gegensätze zum Schock verdichtet. Lindemanns Texte klingen wie Märchen und Abzählverse, und wie im Märchen wird hier alles, das ausgesprochen wird, auf der Stelle wahr: Perfekt im Takt explodieren in „Wiener Blut“ die Puppen, und zur Zugabe „Engel“ fackelt Lindemann die riesigen Flügel auf seinem Rücken ab – Rammstein wünscht Frohe Weihnachten.

Das Publikum selbst ist weit entfernt vom kollektiven Ausrasten eines „echten“ Metal-Konzerts – was schade ist. Die „Süddeutsche Zeitung“ demonstrierte kürzlich, dass es alte Arbeiterlieder und Moritaten von Brecht und Weill sind, aus denen Rammstein schöpfen. Deren soziales Potenzial geht hier allerdings unter in einem autistischen Selbstbehauptungszirkel. Das Beunruhigende an dieser Band sind nicht die kalkulierten Tabubrüche. Das Beunruhigende an Rammstein ist, dass sie so schrecklich normal sind. Sie bieten den Soundtrack für Autotuner und Laubenhüter, für Heckenschneider und Zaunhochzieher, für Finstergucker und Platzbehaupter, für Rechtbehalter und Häuslebauer. Das Monster – es sitzt in der Mitte der Gesellschaft.

adkv - art cologne preis
für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018