Berlin ist gar nicht so hart wie du denkst

Die Weite der Hinterhöfe: Berlin ist neuerdings Postrock-Stadt, und Lonski & Classen verleihen dem Leben der Laptop-Frickler und Latte-Freelancer einen neuen, romantischen Klang

Der Tagesspiegel, 03. Januar 2010

Als sie die Grundschule in Mönchengladbach hinter sich hatten, erwischte Felix Lonski seinen Freund Lukas Classen einmal besonders böse bei einem Spiel namens „Fahrradfangen“: Der Stock geriet in die Speichen, das Rad überschlug sich, das Schlüsselbein brach. Wenn Felix und Lukas heute als "Lonski & Classen" auf Berliner Konzertbühnen stehen, hat Lukas mit seiner Gitarre noch immer etwas von einer verletzlichen Marionette.

Berlin ist hart. Berlin nährt Musik, die so klar ist wie das Straßenraster und auf die Fresse wie Asphalt. Hier wird das Erbe des Punk verwaltet. Hier dröhnt der rohe Garagenrock-Sound. Hier donnert der Techno des Labels BPitch Control. Hier pflegt Sidos Gangsterrap den harten Ton der Straße. Und Peaches und Boys Noize übersteuern die Synthesizer zu enthemmtem Schweinerock-Elektrosound. Bunte Künstlerkollektive wie Seeed feiern große Gesten und Parolen: „Mama Berlin – Backsteine und Benzin.“

Unter dem Beton aber knacken die Wurzeln, und in den Ritzen sprießt fremdes Kraut: Neuerdings kommen aus dieser kalten Stadt mehr und mehr melancholische Klänge und entrückte Gesänge, Musikentwürfe, die schwer fassbar sind, lakonisch, elegisch, vertrackt: Post-Rock.

1994 erfand der Kritiker Simon Reynolds diesen Genrebegriff für neue Musik, die sich gewohnten Einordnungen verweigerte: Rock, der nicht Rock sein wollte, sondern sich aus vielen Quellen speiste, Ambient, Dub oder dem Progressive Rock der Siebziger. Post-Rock entstand, wo Sicherheiten schwanden, wo das emanzipatorische Potenzial von Rockmusik verbraucht war oder Städte ihre bessere Zeit hinter sich hatten – Chicago zum Beispiel. Hier verschafften Tortoise Mitte der Neunziger dem Phänomen Post-Rock erstmals eine größere Öffentlichkeit.

Die deutsche Post-Rock-Szene sammelte sich bis zunächst dort, wo es auch regional idyllisch zugeht: um das Hausmusik-Label im bayerischen Weilheim. Mario Thaler produzierte hier den intimverträumten Klang von The Notwist. Nach dem Bankrott wechselten viele Künstler zum Berliner Label Morr Music, das etwa Masha Qrella und Jersey vertreibt. Und, siehe da, still und heimlich wird Berlin zur Post-Rock-Hauptstadt. Kein Wunder, dass nun auch hier die sanfteren Klänge durchdringen, das Fiepen und Zwitschern, das Klopfen und Kratzen – passen sie doch prima zur Erfahrungswelt der Laptop-Frickler und Latte-Freelancer.

Innovationen gehen vor allem vom Label Sinnbus aus, das den erfolgversprechendsten Hauptstadt-Export in Sachen Post-Rock anbietet: Bodi Bill. Die drei Mittzwanziger haben treibenden Elektro, Trip-Hop, Kammermusik, Melancholie und Euphorie so fest miteinander verknotet, dass es wehtut. Dieser Sound gibt den sozialen Erfahrungen der Berliner unter 30 einen Klang – diesem so verunsichenden wie berauschenden Spiegelkabinett aus kurzlebigen Beziehungen, provisorischen Idealen und Bekenntnissen mit niedriger Halbwertzeit. Das Ergebnis ist ein romantisch-sinfonischer Soundtrack, der auf die Tanzfläche zwingt.

Noch weiter draußen agiert das Duo Lonski & Classen, mit einer Musik, die von Verletzlichkeit und Vertrauen handelt. Ihr zweites Album „Climbing on Branches“, im Herbst erschienen, vibriert äußerst anregend von der Anstrengung, einen Raum abzustecken, der sich Einordnung und Verwertung verschließt. „Strain Everything“ heißt das Eröffnungsstück: Spann alles an. Wie ein Rinnsal fließt es unter Gitarrenarpeggi zögernd dahin, mehr gebremst als getrieben von sanft perlenden Trommelschlägen. Nach zwei Minuten aber öffnet sich plötzlich ein Echoraum, durch den ein zitterndes Mundharmonika-Solo irrt. Wo sind wir denn jetzt gelandet?

„Den Hall haben wir aus meinem Hinterhof“, sagt Lukas Lonski. „Wir haben die Aufnahme im Fenster abgespielt und gegenüber abgenommen.“ Da frage noch einer nach dem Klang der Stadt! Was Böhmen Smetanas Moldau war, ist diese Skizze für das improvisierte Leben in den Altbauten der Second-Hand-Metropole. Lange genug wurde es unter Slogans wie digitaler Boheme und urbanem Pennertum sortiert. Lonski & Classen dagegen versprechen Heilung von ironisch-rebellischer Stichwortgeberei.

Eine rote Lampe im Fenster weist den Weg zum Studio der beiden Kindheitsfreunde mitten im brummenden Studioviertel am Schlesischen Tor. Lukas Lonski führt die neue Bühnentechnik vor: flackernde Neonröhren mit einer selbst gebastelten Steuerung, billige Bauteile aus dem Elektrogeschäft, ein alter Diaprojektor. Es funktioniert nicht ganz, ein Teil fehlt – egal. Auch in der Bühnenshow geht es um Unterbietung, um Entzug. An die Stelle des Agitatorischen tritt das Närrische, an die Stelle der Selbstbehauptung das Bekenntnis zum Scheitern. Die Bastelästhetik passt zur Wiederentdeckung der Arte Povera in der Bildenden Kunst, der Arbeit mit vorgefundenen Materialien.

Auf dem ersten Album hatten Lonski & Classen ihre Soundspuren bis ins Kleinste zerschnitten, verschoben und montiert. Auf „Climbing on Branches“ entdecken sie das Spiel neu. Lonskis Gesang klingt jetzt geradezu exaltiert. „Ich will auf Messers Schneide tanzen“, sagt der 30-jährige studierte Musikwissenschaftler. In „Satisfaction“ klingt das wie ein meditativer Klagegesang an einem schwankenden Mast, weit draußen auf See, fernab des Publikums.

In einer musikalischen Szene, die sich gegen Vergleichbarkeit sträubt, empfehlen sich Lonski & Classen gerade deshalb, weil Szenen sie gar nicht interessieren: „Wir sind totale Nicht-Netzwerker“, bekennt Classen. So probte das Duo früher in der alten Werksauna des Osthafens. Draußen floss die Spree, drinnen wuchsen die Klänge aus einem leeren Schwimmbecken. Solche Schutzräume sind selten. Es braucht sie wohl für eine Musik, die auf nichts zugeschnitten ist, nicht auf Überwältigung, nicht auf Gruppenbildung. Um es mit Peter Fox’ Kreuzberger Sittengemälde „Schwarz zu Blau“ zu sagen: „Berlin ist eben doch gar nicht so hart wie du denkst.“

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