Traumhäuser für die Tropen

Die brasilianische Architektin Lina Bo Bardi mixte Betonbrutalismus mit Glamour und Bauhaus mit afrikanischer Kunst. Jetzt wird die legendäre Baumeisterin wiederentdeckt.

art, 14. Dezember 2014

Während der Hafen von Neapel kleiner wird, steht die junge Architektin Lina Bo Bardi an der Reling und zeichnet: das Profil des Vesuv; die Rümpfe versenkter Kriegsschiffe, die in der Bucht aus dem Wasser ragen. Es ist September 1946, Europa liegt in Trümmern, und die 32-jährige verlässt mit ihrem Ehemann, dem Kunsthändler Pietro Maria Bardi, den Kontinent in Richtung Südamerika. »Ich wurde Architektin, als nichts gebaut, nur zerstört wurde«, wird sie 1992, am Ende ihres Lebens, in São Paulo sagen. »1946 realisierten wir, dass unser Traum eines modernen und freien Italien bereits vorbei war.«

In Brasilien dagegen, einem »unvorstellbaren Land, wo alles möglich war«, wird sie sich nicht nur in der Männergesellschaft der Kultur- und Architektenszene São Paulos Respekt verschaffen. Sie wird mit ihren Projekten auch eine ganz eigene Version der Moderne erfinden. Allerdings ohne, dass jemand außerhalb Brasiliens viel davon mitbekommt. Selbst in Brasilien erntete der Architekturprofessor Zeuler Lima vor einigen Jahren noch ahnungslose Blicke, wenn er den Namen der Frau nannte, deren Kultur- und Sportzentrum SESC Pompéia täglich von Tausenden Menschen genutzt wird und deren Museu de Arte de São Paulo (MASP) an der zentralen Avenida Paulista auf der Liste jeder Kulturtouristin steht. Vielleicht ist das der größte Ausweis für den Erfolg der Wahlbrasilianerin, die sich an lokalen Bautraditionen orientierte und ihre Entwürfe gemeinsam mit Handwerkern und künftigen Nutzern auf der Baustelle entwickelte: Ihre Werke funktionieren gänzlich ohne sie. Lina Bo Bardi ist die wohl unbekannteste Stararchitektin der Welt.

Stararchitektin, weil in den letzten Jahren eine wahre Bo Bardi-Begeisterung ausgebrochen ist, vor allem in der Kunstwelt. Mit leuchtenden Augen schwärmen Heimkehrende von der Casa de Vidro, dem Glashaus, das sie 1951 für sich und ihren Mann im Villenviertel Morumbi über São Paulo baute. Auf zarten Stelzen ragt die breite Glasfassade aus dem Hügel, von Palmen belagert: der Traum eines modernistischen Heims in den Tropen. Hier, zwischen den Ölgemälden und Antiquitäten Pietro Bardis und von Bo Bardi entworfenen Möbeln, veranstaltet das Instituto Lina Bo e. P.M. Bardi regelmäßig Ausstellungen, auch Hans Ulrich Obrist hat eine Reihe kuratiert.

In Europa schickte zuletzt die Künstlerin Madelon Vriesendorp, verheiratet mit Rem Koolhaas, eine Reihe künstlerischer Annäherungen an Bo Bardi von London über Berlin nach Mailand. Kurator Adam Szymczyk nennt Bo Bardi als Inspiration für die nächste documenta. Sein Vorgänger Roger M. Buergel forscht indes schon seit Jahren über Bo Bardi und präsentiert sie im Zürcher Johann Jacobs Museum als Kuratorin von Volkskunst. Und Zeuler Lima hat 2013 die erste umfassende Biografie geschrieben, pünktlich zum 100. Geburtstag Lina Bo Bardis, den das Architekturmuseum der Münchner Pinakothek der Moderne mit einer großen Retrospektive begeht.

In über 100 Exponaten ist vor allem die Zeichnerin Bo Bardi zu entdecken, die in energischem Schwung mit Buntstift, Tusche und Silberfolie den Vorplatz ihres Museums voll spielender Kinder imaginiert; die Cut-Out-Collagen fertigt; oder mit kumpelhaftem Spott den Ehemann im Sessel karikiert. Woher rührt die plötzliche Euphorie für eine Frau, die Brasilien nicht mehr verließ und gerade mal 13 Bauten hinterließ? Die einfachsten Erklärungen zuerst: Sie war glamourös. Die Italienerin, die sich immer mehr am Vater als an der Mutter orientiert hatte, war eine energische, zupackende, zugewandte Frau. Hinter den Fenstern der Casa de Vidro, die damals noch auf ein unbebautes Tal gingen, fanden sich sonntags São Paulos Künstler, Architekten und Theatermacher zum Mittagessen ein, auch Alexander Calder, John Cage oder Roberto Rossellini schauten auf Reisen vorbei.

Sie war reich. Zumindest brachte Pietro Bardi einen umsatzstarken Kunsthandel in die Ehe ein. Bardi stand gut mit Mussolini, und in Brasilien wurde er vom Medienunternehmer Assis Chateaubriand, einer Art Rockefeller des Südens, in die höheren Kreise eingeführt. Chateaubriand gründete 1947 das Kunstmuseum MASP, ernannte Bardi zum Gründungsdirektor und beauftragte später Lina Bo Bardi mit dem Neubau, der zu ihren Meisterwerken gehört.

Sie stand auf der Seite der Armen. Bo Bardis Antrieb habe sich aus zwei Quellen gespeist, erzählt Architekt Marcelo Ferraz, der 15 Jahre lang mit ihr arbeitete: Leidenschaft und Empörung. »Sie konnte sich über alles empören.« Vor allem über die kolonialen Reste in Brasiliens Gesellschaft und die Ignoranz gegenüber regionalen Traditionen durch aus Europa importierte Konzepte der Moderne. Schon nach dem Architekturstudium beteiligte sich Bo Bardi in Mailand als Redakteurin und Illustratorin von »Domus« und »Lo Stile« an Debatten über das Verhältnis von ländlicher Architektur und Moderne. Während der Faschismus Traditionen zu vereinnahmen suchte, stellte Bo Bardi Architekturideologien vom Kopf auf die Füße und rief eine Moderne von unten aus, die sich aus den Bedürfnissen und dem Wissen einfacher Leute entwickeln sollte. So plante sie die Kirche Igreja Espírito Santo do Cerrado in Uberlândia im Bundesstaat Minas Gerais zusammen mit der Gemeinde, verwandte Materialien aus Abbruchhäusern und verlangte kein Honorar. Als sie 1959 als Direktorin an das Kunstmuseum von Salvador berufen wurde, überzeugte sie den Gouverneur, sie ein Lagerhaus aus der Kolonialzeit zum Volkskunstmuseum umbauen zu lassen. Darin präsentierte sie Kunst- und Alltagsobjekte, die sie auf den Märkten des afrikanisch geprägten Bundesstaats Bahia zusammen kaufte, bis sie Salvador nach dem Militärputsch von 1964 verlassen musste.

Vierter Grund: Lina Bo Bardi wirkte in Brasilien, das noch heute, wo längst der Fungus an Oscar Niemeyers Astronautenbauten in Brasília frisst, den Zauber des »Lands der Zukunft« trägt, wie es Stefan Zweig 1941 nannte. Sieht man alte Fotos von Bo Bardi auf der Treppe ihres Glashauses, könnte man den Eindruck gewinnen, die Welt sei damals noch leer gewesen, Baugrund, der nur auf große Utopisten wartete. Auch diese nostalgische Besinnung auf eine Zeit der Zukunftszuversicht steckt wohl hinter der Freude an der Neuentdeckung. Die komplexere Erklärung für das Bo-Bardi-Fieber aber ist, dass sie eine herausragende Architektin mit radikalen, eigenständigen Konzepten war, die es in ihrer Tragweite noch immer zu erschließen gilt – und die heute vielleicht sogar besser verstanden werden als damals. Vernakuläres Bauen, also die Nutzung lokaler Traditionen, die heute so hoch im Kurs steht? Vertrat Bo Bardi, beeinflusst vom »ambientismo« ihres Lehrers Gustavo Giovannoni, schon als junge Publizistin.

Hybridität? Verblüffend, wie frei Bo Bardi von jedem Stil und Dogma war. Regt die vordere Hälfte der Casa de Vidro mit ihrem flachen Giebel und dem Hof mit Baum zu Vergleichen mit Ludwig Mies van der Rohes Farnsworth House oder Philip Johnsons Glass House an, entpuppt sich die hintere Hälfte mit ihren gedrungenen Außenwänden und kleinen Fenstern eher als italienisches Bauernhaus. Alle ihre Bauten sind von einem Ringen um Identität gezeichnet, wollen diese aber nicht bestimmen. So erlag sie nie der Folklore oder strengen Formvorgaben. Ihre Kulturbauten arbeiteten gegen alles Elitäre und die Auratisierung der Kunst. Im Teatro Oficina in São Paulo sitzt das Publikum zu zwei Seiten einer Gasse, die sich an beiden Enden in den Stadtraum öffnen lässt.

Projektbasiertes, dialogisches Arbeiten? Bo Bardi unterhielt nie ein großes Büro. Sie zeichnete vor Ort und passte ihre Entwürfe fortlaufend den Einwänden und Anregungen von Nutzern und Kollegen an – mit dem Ergebnis, das keins ihrer Häuser dem anderen gleicht. Von der mit Muscheln, Flaschenböden und Puppenköpfen durchsetzten Fassade eines Einfamilienhauses im afrobrasilianischen Chame-Chame über den Umbau eines Museums für afrikanische Kunst in Salvador bis zur radikal sachlichen Fassade des MASP – Bo Bardi hat einfach keine Signatur hinterlassen. Auch deshalb macht die Entdeckung solchen Spaß. Umnutzung und Recycling? Wo sie konnte, baute Bo Bardi mit dem, was da war. Als eine alte deutsche Kerosinfabrik östlich von São Paulos Zentrum zum Freizeit-, Sport- und Kulturzentrum SESC ausgebaut werden sollte, schlug Bo Bardi nicht nur vor, den Industriekomplex umzubauen, sondern stellte ihm noch zwei ungeschlachte Betontürme zur Seite, die den rohen Charme ins Extrem steigern, ohne die Industrieromantik zuzulassen, der viele europäische »Kulturfabriken« verfallen sind.

Betritt man heute das SESC Pompéia, ist es schwer, nicht in Euphorie auszubrechen angesichts dieser Stadt in der Stadt, in der Bürger verschiedenster Hintergründe Sport treiben, Kunstausstellungen, Theatervorführungen oder die Bibliothek besuchen, zu Mittag essen oder am kleinen aufgeschütteten Strand das W-Lan nutzen. Ein sozialistischer Traum mitten im kapitalistischen Moloch, der damals den Übergang zur Demokratie vorwegnahm. Das ist nicht allein Bo Bardis Leistung, sondern zunächst mal die der Bürger selbst sowie der Gewerkschaft, die solche Kulturzentren betreibt. Aber Bo Bardi traf prägende Entscheidungen, um das Nebeneinander des Disparaten zu stimulieren. Das SESC ist nicht nur alles andere als schön im klassischen Sinne, viele Teile sind nicht mal im engeren Sinne funktional.

Von den Umkleiden führt der Weg zu Schwimmbad und Turnhallen unter freiem Himmel über V- und Y-förmige Brücken von einem Turm in den anderen. Durch die wie provisorische Schießscharten geschnittenen Fensteröffnungen regnet es schon mal rein. Im Theater sitzen die Zuschauer eingepfercht in schlichtem Holzgestühl. »Wenn Ihr wollt, dass die Leute bleiben, müsst Ihr spannende Stücke spielen«, soll die Architektin empfohlen haben. Allseits sind dem Komplex Widerstände eingebaut, die ihn vor der Vereinnahmung durch jede ideologische Eindeutigkeit bewahren. Damit empfiehlt sich Bo Bardi als Gründungsfigur einer kämpferischen Architektur, die die Konflikte, in denen sie steht, nicht aufzulösen sucht, sondern so klar wie möglich ausagiert.

Auch Bo Bardis bekanntestes Werk, das MASP, ist ein in Architektur gezwängter Konflikt: Seine 70 Meter lange Kubatur schwebt über dem Boden, in die Luft gestemmt durch gewaltige umlaufende Stützen aus Stahlbeton. Ein sich fortwährend selbst ausstellender Kraftakt. Als »aufgehängtes Tropenhaus« beschrieb die Architektin den Bau, für dessen Fassade sie erst einen vertikalen Garten plante, bevor sie sich entschloss, die Hallen mit Tageslicht zu fluten. In einem wegweisenden Einfall verzichtete sie auch auf Ausstellungswände. Besucher wandelten durch einen Wald aus Gemälden aller Epochen, aufgehängt an Glasscheiben, die in Betonsockeln steckten. So war die Kunst aus ihren Verankerungen in Theorie und Geschichte gelöst um den Gästen auf Augenhöhe zu begegnen.

Stand das MASP zur Entstehung an einem Park über der Stadt, pulsiert heute auf der Avenida Paulista der Verkehr zwischen Bürotürmen. Die Glasfassade wurde teils verhangen, die Hallen mit Gipswänden verstellt. Doch gerade hat die neue Museumsleitung angekündigt, das von Kuratoren in aller Welt gefeierte Ausstellungskonzept Bo Bardis wieder einzuführen. Langsam scheint man in Brasilien wie in der Welt zu verstehen, was man an dieser Anarchistin und ihren eigenwilligen, widerspenstigen, um Vielfalt und Teilhabe ringenden Werken hat.

Die Berliner Filmemacherin Belinda Rukschcio hat einen wunderbaren Film gedreht. Er porträtiert Bo Bardi in konzentrierten Nahaufnahmen architektonischer Details und im Leuchten der Augen ihrer Freunde. »Ich bin Architektin«, erinnert Theatermacher José Celso Martinez Corrêa einen von Bo Bardis markigen Sprüchen: »Ich reiße Wände ein.«

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018