Das neue Miami

Eine Reportage aus der brasilianischen Stadt São Paulo, die unbeobachtet zum neuen Kunstzentrum wurde

Welt am Sonntag, 12. April 2015

Erzählt er schon wieder von seinem Museum? Das ist mein Empfang!" Scherzend schiebt sich Fernanda Feitosa in die Gruppe von Galeristen, Kuratorinnen und Journalisten, die sich auf der Terrasse ihres Hauses um ihren Ehemann versammelt haben. Das Traumpaar der Kunstszene von São Paulo – sie Eigentümerin der Kunstmesse SP Arte und er frischer Direktor des Kunstmuseums MASP – wohnt in einer dieser bezaubernden 60er-Jahre-Villen von roher Eleganz in Murumbi, dem Reichen- und Intellektuellen-Viertel. Nonchalant fügen sich Werke der brasilianischen Moderne ins Wohnzimmer: Mira Schendel, Sérgio de Camargo, Lygia Clark.

"Als wir heirateten, wünschten wir uns etwas, das uns neben Haus und Kindern zusammenhält. Deshalb begannen wir, Kunst zu sammeln", erzählt Feitosa. 2005 hing sie ihren Anwaltsjob bei JP Morgan an den Nagel und gründete die Messe, in deren Fahrwasser sich São Paulo zum wichtigen Galeriestandort aufschwang. Ihr Mann Heitor Martins rettete derweil die Biennale von São Paulo als Präsident aus den roten Zahlen.

Die beiden erinnern an ein anderes Traumpaar, das vor knapp 70 Jahren nach São Paulo kam und nur ein paar Straßen weiter lebte: Der Kunsthändler Pietro Maria Bardi, Gründungsdirektor des MASP, und die legendäre Architektin Lina Bo Bardi, die 1968 den ikonischen Neubau des Museums schuf, einen unter umlaufenden Stahlträgern in die Luft gehobenen Glaskasten. Sie gehörten zur Welle europäischer Immigranten, die die Städte des Südens zu kulturellen Zentren machten. Jahrelang schlummerte das Museum zwischen den Wolkenkratzern der Avenida Paulista im Dornröschenschlaf. Nun hat Heitor Martins mit Adriano Pedrosa einen der weltbesten Ausstellungsmacher ernannt, der nicht nur die Sammlung aufarbeitet, sondern auch Bo Bardis Ausstellungsdisplays wieder belebt, die unter Kuratoren heute als wegweisend gelten. Mit der Neubelebung des MASP wird symbolisch besiegelt, was in der ganzen Innenstadt zu spüren ist: Das Kunstleben von São Paulo erlebt eine Blüte wie in den goldenen Fünfzigerjahren, als Oscar Niemeyers futuristische Bauten im Ibirapuera-Park eingeweiht wurden und die bis heute zweitgrößte Biennale der Welt kulturellen Geltungsanspruch behauptete.

Manche fühlen sich in dieser Woche an Miami vor zehn Jahren erinnert, als dort die Art Basel einzog. Auch in São Paulo steht man mit guten Drinks und Häppchen zwischen Kunst und Tropenpflanzen. Fast jede Galerie hat bunten Putz, gemusterte Kacheln und einen Innenhof, die Eröffnungen dauern bis elf, die Drinks gehen nie aus und man ist in Nullkommanichts mit jedem im Gespräch. In der Zwölf-Millionenstadt, in der öffentlicher Raum ein seltenes Gut ist, ist Kunsthandel mehr als anderswo zuerst soziales Ereignis und erst dann Geschäft. "Vor zehn Jahren gab es nur sechs Galerien, die auf internationalen Messen präsent waren", erzählt Fernanda Feitosa. "Im Lauf der Jahre hat sich deren Kundschaft um 20 Jahre verjüngt." Die Reformen der Arbeiterpartei haben eine kaufkräftige Mittelklasse hervorgebracht, und die Einführung von Firmenboni schnellen Reichtum auch für Leute unter 30. "Damit setzt sich auch das Bedürfnis nach einem anspruchsvollen Lebensstil durch", erklärt Feitosa.

Seit 2000 hat sich die Zahl brasilianischer Galerien verdreifacht. Die späte Einführung einer Steuervergünstigung hat die Kunstverkäufe allein 2012 um fast ein Viertel steigen lassen. Heute zählt São Paulo, den Antikhandel eingerechnet, rund 100 Galerien, dazu einige beachtete Non-Profit-Initiativen wie Pivô. Die Newcomer Luma sind gerade vom zweiten Stock eines Hochhauses in einen großzügigen Bungalow gezogen. Die 1988 gegründete Galerie Casa Triângulo, die Daniel Acosta oder Rommulo Vieira Conceição vertritt, wird sich bald auf 500 Quadratmeter vergrößern. Auch die notorisch schläfrigen öffentlichen Institutionen reagieren inzwischen auf die wachsende internationale Aufmerksamkeit: Das Museum für Moderne Kunst MAM hat eine Piero-Manzoni-Retrospektive eröffnet, und das Kulturzentrum SESC Pompéia (auch ein brutalistisches Meisterstück von Lina Bo Bardi) holt die unvermeidliche Marina Abramovi? in die Stadt, die sich wie eine strenge Mutter über das brasilianische Bedürfnis nach Umarmungen lustig macht.

Zur Eröffnung der Messe scheint die Sonne durch die Glasfassade von Niemeyers großzügigem Biennale-Pavillon, in dem sich 140 Aussteller über zwei Etagen verteilen. Die Stimmung ist zunächst ruhig. Nach dem erfolgreichen letzten Jahrgang bereitet nur der schwache Real Sorgen. "Es ist ein kritischer Moment für den Kunstmarkt", sagt Designer José Marton, der seit 24 Jahren mit Künstlerfreunden Werke gegen Möbel tauscht und eine beachtliche Sammlung aufgebaut hat.

Bei der Goodman Gallery aus Kapstadt, zum ersten Mal auf der SP Arte, steht das Thermometer noch auf null. Direktor Neil Dundas ist entsetzt, dass die Hallen fast leer sind. Doch Nachbar Klaus Malonek von der Düsseldorfer Galerie Sies + Höke kann beruhigen: Er weiß, dass das Publikum es hier nicht so eilig hat wie auf der Frieze oder der Art Basel. "Oft geht noch in den letzten Stunden am Sonntag das Handeln richtig los", erzählt auch Hanna Schouwink von David Zwirner. Denn während in Brasilien sonst eine irre Einfuhrsteuer von 38 Prozent gilt, hat die Galerienlobby für die Messetage eine Ausnahme von 14,4 Prozent durchsetzen können – auch deshalb drängen brasilianische Sammler ihre Lieblingsgalerien in aller Welt, Stände in São Paulo einzurichten. Aus Deutschland tasten sich dennoch nur sieben Galerien auf den Markt vor. Auch zeigt sich kein Vertreter deutscher Museumssammlungen, obwohl brasilianische Kunst zunehmend in westlichen Institutionen präsent ist.

Stattdessen werden die Stände der Galerien aus Brasilien überrannt. Bei Ipanema aus Rio, der mit 50 Jahren ältesten des Landes, gehen direkt ein Camargo und ein besonders schönes Gemälde von Beatriz Milhazes von 1996 für je 1,8 Millionen Dollar über den Tisch. "Ausländische Sammler erschrecken oft über die ungewohnt hohen Preise", sagt der alteingesessene Kunsthändler Paulo Kuczynski, der neben Gemälden von Lasar Segall oder Roberto Burle Marx ein ausgreifendes Metallobjekt von Lygia Clark für 3,5 Millionen Dollar zeigt. "Es stand lange bei Lygia im Wohnzimmer, ihre Kinder haben damit gespielt." Die Abnutzungsspuren tragen nur zur Schönheit bei. Wer die SP Arte besucht, tut das aus Liebe zur regionalen Kunst, die sich in keinem Museum so dicht über alle Epochen entfaltet wie hier. Schon mal von 3NÓS3 gehört? Die Künstlergruppe stülpte während der Militärdiktatur öffentlichen Statuen Plastiktüten über den Kopf wie Folteropfern. Mit ihren Schwarzweißfotos und den Arbeiten jüngerer Künstler ist der Stand der 2011 gegründeten lokalen Galerie Jaqueline Martins ein stiller Höhepunkt.

Man spürt deutlich, dass man auf der Südhalbkugel ist: Geben sonst auf Messen die immer gleichen Kapoors, Craggs und Warhols den Generalbass vor, sind es hier die Größen lateinamerikanischer abstrakter Kunst und des Neoconcretismo: Carlos Cruz-Diez, Abraham Palatnik, Alfredo Volpi, Lygia Pape, Hélio Oiticica. Deren formale Strenge bei größter Leichtigkeit bildet noch immer die Grammatik brasilianischer Gegenwartskunst, wie man sie in ihrer hipsten Form bei der Galerie Mendes Wood findet, den jungen Platzhirschen, die seit 2010 geschickt eine breite Sammlerschaft bedienen und ihren Stand mit Arbeiten von Sonia Gomes oder Adriano Costa mal wieder vom Fleck weg verkaufen. "Vergiss nicht unsere Party mit Michael Werner am Donnerstag!", schreibt Galeriedirektor Felipe Dmab per SMS. "Es wird die beste der Woche!"

Stimmt. Bei Bowle, Wangenküssen und einem Trash-DJ-Set wie auf jeder Kunstparty des Planeten erzählen jetzt auch Leute aus London und Berlin von erfolgreichen Verkäufen. Und dann trifft man jemanden wie die junge Italienerin Anna Bergamasco, der von allen Orten der Welt ausgerechnet dieser der beste erschien, um ihre Galerie Boatos Fine Arts zu eröffnen. Im letzten Jahr fand sie eine Erdgeschosswohnung mit günstiger Miete mitten im Zentrum. Brasilien, Land der Zukunft: Stefan Zweigs Urteil von 1941 gilt offenbar noch immer.

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für kunstkritik 2012

Will-Grohmann-Preis
der Akademie der Künste 2018